Nettchen Neswanowa by Dostojewski Fjodor

Nettchen Neswanowa by Dostojewski Fjodor

Autor:Dostojewski, Fjodor [Dostojewski, Fyodor]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2023-10-19T00:00:00+00:00


KAPITEL VI

Mein neues Leben verlief so ruhig und still, wie wenn ich unter Einsiedlern gelebt hätte. Ich verbrachte bei meinen Pflegeeltern mehr als acht Jahre und erinnere mich nicht, daß in dieser ganzen Zeit außer einigen wenigen besonderen Fällen jemals im Hause ein Abendessen oder ein Diner gegeben worden wäre oder Verwandte, Freunde und Bekannte sich in größerer Anzahl zusammengefunden hätten. Es erschien in unserm Hause fast niemand außer zwei oder drei Personen, die mitunter Besuche machten, dem Musiker B..., welcher Hausfreund war, und denjenigen Leuten, die zu Alexandra Michailownas Manne kamen, und zwar fast immer in geschäftlichen Angelegenheiten. Alexandra Michailownas Mann war von seinen Geschäften und von seiner dienstlichen Tätigkeit beständig in Anspruch genommen und konnte sich nur selten ein wenig freie Zeit abmüßigen, die er dann zwischen der Familie und dem gesellschaftlichen Leben gleichmäßig verteilte. Bedeutende Konnexionen, die er nicht vernachlässigen durfte, zwangen ihn, sich ziemlich häufig bei der Gesellschaft in Erinnerung zu bringen. Fast überall war das Gerücht von seinem grenzenlosen Ehrgeiz verbreitet; aber da er sich des Rufes erfreute, ein geschäftstüchtiger, solider Mensch zu sein, ein sehr ansehnliches Amt bekleidete und Glück und Erfolg ihm gleichsam von selbst auf seinen Wegen entgegenkamen, so waren die gesellschaftlichen Kreise weit davon entfernt, ihm ihre Sympathie zu entziehen. Ganz im Gegenteil: für ihn empfanden alle immer ein besonderes freundschaftliches Interesse, das sie dagegen seiner Frau völlig versagten. Alexandra Michailowna lebte in völliger Vereinsamung; aber sie schien sich darüber zu freuen. Ihr stilles Wesen war gewissermaßen für das Einsiedlertum geschaffen.

Sie hing an mir mit ganzer Seele und liebte mich wie ein eigenes Kind, und ich meinerseits erwiderte diese Gefühle; obgleich meine Tränen über die Trennung von Katja noch nicht versiegt waren und mein Herz noch wund war, warf ich mich, nach Liebe dürstend, in die mütterlichen Arme meiner Wohltäterin. Von jener Zeit an hat meine Liebe zu ihr nie eine Unterbrechung erfahren. Sie war mir Mutter, Schwester, Freundin; sie ersetzte mir alles in der Welt und pflegte treu meine Jugend. Dabei bemerkte ich bald durch ein instinktartiges Gefühl, daß ihr Schicksal keineswegs so schön war, wie man es auf den ersten Blick wegen ihres stillen, anscheinend ruhigen Lebens, wegen ihrer scheinbaren Freiheit und wegen des freundlichen, klaren Lächelns meinen konnte, das so oft ihr Gesicht erhellte; und daher offenbarte mir jeder Tag meiner fortschreitenden geistigen Entwicklung etwas Neues in dem Schicksal meiner Wohltäterin, etwas, was mein Herz langsam und mit Schmerz erriet; und mit dieser traurigen Erkenntnis wuchs zugleich meine Anhänglichkeit an sie und wurde immer fester und fester.

Von Charakter war sie schüchtern und schwach. Wenn man die klaren, ruhigen Züge ihres Gesichtes ansah, hätte man auf den ersten Blick nicht glauben können, daß irgendwelche Unruhe ihr reines Herz aufrege. Es war undenkbar, daß sie imstande sei, gegen jemand etwas anderes als Liebe zu empfinden; das Mitleid gewann in ihrem Herzen immer die Oberhand, sogar über den Widerwillen. Dabei aber war sie doch nur einigen wenigen Freunden wirklich zugetan und lebte in völliger Abgeschlossenheit. Sie war von Natur leidenschaftlich und



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